2  Was ist AI?

Author

Gerd Graßhoff

2.1 Begrüßung und Einführung

Herzlich willkommen zur ersten Vorlesung “Philosophie der AI”! Ursprünglich trug diese Veranstaltung den Titel “Philosophie der künstlichen Intelligenz”, doch angesichts der aktuellen Diskussionen habe ich mich entschieden, den Begriff auf “AI” zu verkürzen. In diesem Semester möchte ich Ihnen einen umfassenden Überblick über die philosophischen Beiträge und Fundamente der modernen Artificial Intelligence geben und Sie durch die Grundlagen führen.

Entgegen der Erwartungen vieler geht es in dieser Vorlesung nicht primär darum, eine Bewertung oder Reflexion über die Folgen und Konsequenzen der künstlichen Intelligenz vorzunehmen. Obwohl wir diese Themen en passant ebenfalls behandeln werden, liegt der Kern der Vorlesung in der Erörterung der Grundthese, dass die eigentliche Innovation und der technologische Kern hinter dem Funktionieren der AI nicht nur in der Informatik, Technologie oder der fortschreitenden Entwicklung der Chips liegt, sondern in der Philosophie selbst. Ich vertrete die Ansicht, dass die künstliche Intelligenz heute eine Renaissance der analytischen Philosophie zur Folge hat, die die eigentliche inhaltliche und systematische Basis dessen bildet, was wir heute unter AI verstehen. Es handelt sich hierbei um eine anspruchsvolle Position, die die Philosophie nicht nur als Kommentator der technologischen und gesellschaftlichen Entwicklungen betrachtet, sondern als essenziellen Teil dieser Bewegung und Entwicklung.

Wir befinden uns derzeit nicht nur inmitten einer technologisch-gesellschaftlichen, politischen und sonstigen Revolution, die in ihrer Tragweite mit der Einführung der Elektrizität vor 150 Jahren oder des Webs vor etwa 25 Jahren vergleichbar ist. Vielmehr stehen wir gerade am Anfang einer Phase der technologischen Revolution durch die Einführung der künstlichen Intelligenz, deren weitreichende Entwicklungen wir nur erahnen können. Ein Indiz dafür ist die Tatsache, dass technologische Veränderungen, Möglichkeiten und Nutzungsformen mittlerweile auf täglicher Basis geschehen.

Während der Vorbereitung dieser Vorlesung ist mir aufgefallen, dass man nicht davon ausgehen kann, mit denselben Utensilien, Tools und Hilfsmitteln zu beginnen und am Ende der Vorlesung weiterzuarbeiten. Die Möglichkeiten und technologischen Anforderungen ändern sich so rasant, dass sie sich sogar während des Verlaufs dieser Vorlesung weiterentwickeln werden. Mein Ziel ist es, Ihnen die Gelegenheit zu bieten, einige dieser Tools während der Vorlesung, in der Nachbereitung oder Vorbereitung selbst auszuprobieren.

Künstliche Intelligenz, oder kurz AI, ist ein Begriff für eine technische Möglichkeit, die Mitte der 50er Jahre die Phantasie einer Reihe von Forschern anregte.1 Diese Phantasien entwuchsen den Arbeiten zu den Grundlagen der Mathematik und Logik, die eine enge Verwandschaft von zahlentheoretischen Fragestellungen mit denen von Algorithmen und der Berechenbarkeit von Problemen betrafen. Alan Turings Arbeiten als Fortsetzung von Kurt Gödels fundamentaler Arbeit über “unentscheidbare Sätze der Prinzipia Mathematica und verwandter Systeme” war der Katalysator für die nachfolgenden Anstrengungen, die theoretischen Möglichkeiten in praktische Anwendungen zu überführen.2 Ihr Ziel war es, maschinelle Computertechnologien zu entwickeln, die den menschlichen kognitiven Fähigkeiten nicht nur ebenbürtig sind, sondern sie sogar übertreffen. Man versprach damals vollmundig, dass dieses ehrgeizige Ziel in nur drei bis vier Jahren erreicht sein würde. Die Menschheit könnte dann endlich ihre Freizeit in vollen Zügen genießen, nur noch wenige Stunden pro Woche arbeiten, während der Rest von der AI erledigt würde.

1 Copeland (2004), Dartmouth Summer Research Project, abgerufen am 15.5.2024.

2 Turing skizzierte die Grundzüge eines universellen Computers in seiner Vorlesung in der London Mathematical Society 20. Feb 1947. Copeland (2004), S. 378-394. Neumann (1963), Gödel (1986). Von Neumann war tief beeinflusst von Turings Arbeit und setzte sie in der Entwicklung des EDVAC um. Copeland (2004), S. 515.

Copeland, B. Jack, ed. 2004. The Essential Turing: Seminal Writings in Computing, Logic, Philosophy, Artificial Intelligence, and Artificial Life: Plus the Secrets of Enigma. Oxford University Press.
Neumann, J. von. 1963. “The General and Logical Theory of Automata.” In Collected Works, edited by A. H. Taub, 5:288–89. Oxford: Pergamon Press.
Gödel, Kurt. 1986. Kurt del: Collected Works: Volume i: Publications 1929-1936. Vol. 1. Oxford University Press, USA.

3 Samuel (1959), Shannon (1950a), Shannon (1950b), Newborn (1997), Davies (1950)

Samuel, A. L. 1959. “Some Studies in Machine Learning Using the Game of Checkers.” IBM Journal of Research and Development 3: 211–29.
Shannon, C. E. 1950a. “A Chess-Playing Machine.” Scientific American 182: 48–51.
———. 1950b. “Programming a Computer for Playing Chess.” Philosophical Magazine 41: 256–75.
Newborn, M. 1997. Kasparov Versus Deep Blue: Computer Chess Comes of Age. New York: Springer.
Davies, D. W. 1950. “A Theory of Chess and Noughts and Crosses.” Science News 16: 40–64.

Doch wie wir alle wissen, hat sich von dieser Vision bisher nichts eingelöst. Die Vorstellung war, dass AI als Meisterdisziplin des menschlichen Denkens schnell alle Bereiche überflügeln würde. Als Paradebeispiel galt damals das Schachspiel.3 Doch erst Anfang der 2000er Jahre gelang es einem Computerprogramm, den Schachweltmeister Garri Kasparov in einem ernsthaften Spiel zu besiegen - immerhin 50 Jahre später als ursprünglich prophezeit.

Das andere große Ziel, Computer zu entwickeln, die selbstständig wissenschaftlich kreativ denken können, ist bis heute nicht wirklich erreicht. Trotz aller anderslautenden, manchmal sensationsheischenden Meldungen bin ich jedoch sicher, dass diese Stufe in den nächsten Jahren erreicht werden wird. Dass also wissenschaftliche, kreative, kognitive und intellektuelle Aktivitäten von Maschinen alleine, ohne Assistenz von Forschern gemeistert werden. Das ist sozusagen noch die Krönung der Herausforderung von AI, von Artificial Intelligence.

2.2 AI als Alleskönner

Was Ihnen derzeit tagtäglich in der Öffentlichkeit als AI präsentiert wird, hat mit den eigentlichen Visionen und Zielen oft wenig zu tun. Nehmen wir als Beispiel eine Anzeige der Firma Samsung für ihre “Bespoke AI 11-Kilogramm-Washing-Maschine Serie 8 mit AI-Eco-Bubble und Quick-Drive”. Technisch gesehen handelt es sich schlicht um eine Waschmaschine, aber das Label “AI Wash” soll den Verkauf ankurbeln.

Samsung AI Waschmaschine

Was ist daran nun wirklich AI? Nicht viel, es ist mehr ein Verkaufsargument als alles andere. Alles, was halbwegs gesteuert ist, wird heutzutage als AI vermarktet. Wenn ich hier “Licht aus” sage und es dunkel würde, würden Sie vielleicht denken “Oh, wir haben AI an der HU”. Dabei ist es letztlich nur eine etwas anspruchsvollere Steuerungstechnik, mehr nicht. Das Wort AI ist hier fehl am Platz, auch wenn es gerade überall en vogue ist.

2.2.1 Der Durchbruch der AI-Visionen

Sind wir also jetzt in einer Zeit angekommen, in der sich die ursprünglichen AI-Visionen doch noch erfüllen könnten? Meine Antwort lautet: Ja. Und ich möchte Ihnen heute einen systematischen Grund dafür nennen, der für mich entscheidend ist und den ich Ihnen so vermitteln möchte, dass er nachvollziehbar wird. Nebenbei bemerkt: Wenn Sie Fragen oder Zwischenfragen haben, melden Sie sich einfach. Dann gestalten wir die Vorlesung etwas lebendiger und interaktiver.

Der Aspekt, auf den ich hinaus möchte und den ich für den Meilenstein halte, ist, dass die AI-Visionen gerade dabei sind Wirklichkeit zu werden. Die AI-Propaganda hingegen, die sollten wir schnell beiseite legen. Das ist in erster Linie ein Verkaufsargument, das nicht den Kern der technologischen Innovation ausmacht. Und genau das soll heute unser Thema sein.

2.2.2 Die Attraktivität von AI

Wo liegt denn potenziell die Attraktivität der AI, wie immer wir uns ihr auch nähern? Ist es eine bessere Internetsuchmaschine, die derzeit vielleicht eine der Triebfedern ist? Um das zu verstehen, müssen wir uns die Entwicklung des Internets vor Augen führen.

Gemessen an der Technologiegeschichte ist das Internet noch gar nicht so alt, etwas mehr als 20 Jahre. Wer die Anfänge noch miterlebt hat, erinnert sich an die ersten Browser, die damals oft mit Duschanlagen verwechselt wurden. Vor 20 Jahren wussten die wenigsten, was ein Internetbrowser eigentlich ist. Mittlerweile können wir uns ein Leben ohne Internet kaum noch vorstellen, weder technisch noch gesellschaftlich.

2.2.3 Die ursprüngliche Idee des Internets

Im Kern war die Konstruktion des Internets, die am CERN entwickelt wurde, folgende: Irgendwo stellen wissenschaftliche Einrichtungen webzugängliche Seiten als Informationsquellen bereit. Als Wissenschaftler oder technologische Provider verantworten sie die Inhalte, pflegen sie und sorgen für dauerhafte Zugänglichkeit. Die Browser sind lediglich das lesende Frontend für diejenigen, die auf die Inhalte zugreifen wollen.

Damals war das Internet also eine Art anspruchsvolles Faxgerät als Empfänger der Inhalte. Der Clou lag darin, dass man ganz einfach andere Inhalte per Verlinkung einbinden konnte. So entwickelte sich ein Schneeballsystem, das ein globales Netz von miteinander verknüpften Inhalten erzeugte. Das war die Webrevolution vor 20 Jahren.

2.2.4 Die Ablösung der Webwelt durch AI

Was wir jetzt erleben, ist eine Ablösung dieser Webwelt durch AI. In den nächsten Monaten werden Sie zunehmend feststellen, dass nicht mehr die Provider die Netzinhalte erstellen, auf Webservern bereitstellen und per Browser zugänglich machen. Diese Grundarchitektur wird abgelöst. Nicht mehr der Browser verantwortet, pflegt und stellt die Inhalte bereit. Das ist eine revolutionäre Änderung der Architektur der Informationsflüsse, aber auch der damit verbundenen Probleme. Einen Teil davon werden wir noch kennenlernen oder haben Sie schon erfahren.

Das Web funktionierte bisher deshalb, weil die Inhalte von den jeweiligen Personen, Institutionen oder Wissenschaftlern, die sie bereitstellten, auch autorisiert wurden. Für die Korrektheit und Richtigkeit bürgten die Glaubwürdigkeit und Gewissenhaftigkeit der Provider. Das ändert sich jetzt. Und wir alle wissen um die Gefahren, aber auch Potenziale, die damit einhergehen.

  • Auf der einen Seite sind es nun große Internetfirmen, die die Inhalte über AI-Maschinen, sogenannte Bots, bereitstellen.

  • Auf der anderen Seite können es auch böswillige Gestalten, Institutionen oder Staaten sein, die Inhalte generieren, ins Netz einspeisen, ohne als autorisierende Internetprovider in Erscheinung zu treten.

Derzeit wird das unter dem Stichwort “Internetinhalte der Social Media” diskutiert. Doch das ist nur die Oberfläche. Der Kern des Wandels und des Problems liegt darin, dass die Grundarchitektur des Internets mit den verantwortlichen Providern abgelöst wird durch - ich will nicht sagen unverantwortliche Bots - aber zumindest durch nicht mehr verantwortliche Internetinhaltsprovider. Und das hängt eben mit der AI-Revolution und dem Wandel der Informationsflüsse im Internet zusammen.## Die Veränderung der Informationssuche im Zeitalter der Künstlichen Intelligenz

Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie uns heute gemeinsam einen Blick in die Zukunft der Informationssuche werfen. Bislang war es für uns alle selbstverständlich, dass wir bei der Suche nach Informationen auf die Dienste von Suchmaschinen wie Google zurückgreifen konnten. Wir vertrauten darauf, dass die von diesen autoritativen Anbietern bereitgestellten Inhalte glaubwürdig und sorgsam kuratiert waren. Doch in der nächsten Phase der digitalen Revolution wird sich dies grundlegend ändern.

2.2.5 Die Umgestaltung der Architektur des Internets

Die Architektur des Internets befindet sich in einem extrem dynamischen Wandlungsprozess, dessen Ausgang noch niemand vorhersehen kann. Eines ist jedoch sicher: Es werden enorme Anstrengungen unternommen und gewaltige finanzielle Mittel investiert, um diese Transformation voranzutreiben. Jeder Staat, jede Region und auch Europa sollte ein vitales Interesse daran haben, die Kontrolle über diese Entwicklung nicht zu verlieren.

2.3 Neue Möglichkeiten durch Künstliche Intelligenz

Doch lassen Sie uns zunächst einen Blick auf die vielversprechenden Möglichkeiten werfen, die uns die Künstliche Intelligenz eröffnet. Vielleicht erscheinen Ihnen einige dieser Anwendungen auf den ersten Blick trivial, doch ich versichere Ihnen, sie haben das Potenzial, unseren Alltag und unsere Arbeit grundlegend zu verändern.

2.3.1 Hochwertige Übersetzungen

Nehmen wir zum Beispiel das Thema Übersetzungen. Seit Jahrzehnten wurden enorme Ressourcen in die Entwicklung von linguistischen Modellen zur automatischen Übersetzung von Sprachen investiert. Doch lange Zeit waren die Ergebnisse bestenfalls als Partygags zu gebrauchen und keinesfalls für den ernsthaften Einsatz geeignet. In den letzten Jahren hat sich dies jedoch grundlegend geändert. Mittlerweile sind die automatischen Übersetzungen von so hoher Qualität, dass sie sogar für akademische Zwecke genutzt werden können.

Lassen Sie mich Ihnen ein Beispiel aus meinem eigenen Fachgebiet, der Wissenschaftsgeschichte, geben. Viele der historischen Quellen, mit denen wir arbeiten, sind in Latein verfasst. Vor 100 Jahren mussten Doktoranden ihre Dissertationen an unserer Fakultät noch auf Latein einreichen. Heute würden die meisten von Ihnen wohl Schwierigkeiten haben, einen lateinischen Quelltext sinnvoll zu interpretieren. Doch dank der Fortschritte in der Künstlichen Intelligenz gibt es Hoffnung. Vielleicht führen wir ja in unserer Fakultät bald wieder die Pflicht ein, Doktorarbeiten auf Latein zu verfassen - mit AI als Hilfsmittel könnte dies durchaus ein Alleinstellungsmerkmal unserer Universität werden.

2.3.2 Simultanübersetzung und Lektoratsassistenz

Die Möglichkeiten gehen jedoch noch weiter. In naher Zukunft werden wir in der Lage sein, hervorragende Simultanübersetzungen anzubieten. Ausländische Studierende, die keine europäische Sprache beherrschen, könnten meine Vorlesung mit einem Ohrhörer verfolgen und eine simultane Übersetzung erhalten.

Auch im Bereich des Lektorats gibt es spannende Entwicklungen. Programme wie Grammarly oder DeepL Write bieten bereits heute Textverbesserungsvorschläge, die durchaus mit der Qualität professioneller Lektoratsassistenzen mithalten können. Selbst große wissenschaftliche Verlage wie Nature stellen ihren Autoren mittlerweile Tools zur Verfügung, um ihre englischen Texte in lesbare Form zu bringen. Ob und wie dies gewünscht ist, wird derzeit heiß diskutiert. Doch ich bin davon überzeugt, dass in Zukunft das AI-gestützte Lektorat für wissenschaftliche Publikationen zum Standard werden wird.

2.3.3 Automatisierte Forschungsberichte

Vor der Tür stehen bereits Modelle, die in der Lage sind, eigenständig Texte wie Forschungsberichte zu verfassen. In experimentellen Wissenschaften wie der klinischen Forschung wird bereits daran gearbeitet, Ergebnisse und Erkenntnisse automatisch in Berichte zu überführen, die qualitativ den gängigen Publikationen entsprechen. Dies wirft natürlich Fragen auf:

  • Wer ist der Autor eines solchen Berichts?
  • Akzeptieren wissenschaftliche Journals Texte, die von einer AI erstellt wurden?
  • Wie gehen wir mit Verantwortlichkeit, Seriosität und Zurechenbarkeit um?

Diese Probleme müssen gelöst werden, wenn wir diese Entwicklung weiter vorantreiben wollen.

2.3.4 Das Labor Lettre AI

In eigenen Labor - Lettre AI (Lettre (französich für belesen, gebildet) erforschen und entwickeln wir die hier vorgestellten Techniken weiter. Unser Ziel ist es, eine AI weit über LLMs hinaus zu entwickeln, die auf der Basis der Fähigkeiten des Lesens, Übersetzens und Formulierens epistemische Qualifikationen mitbringt - also wissenbezogene Fähigkeiten, wie argumentieren, kritisieren, Evidenz nachweisen, Literatur vergleichen und aus einem Scholarium als Fundus wissenschaftlicher und kultureller Quellen schöpfen kann.

Lassen Sie mich Ihnen ein Beispiel für die bereits existierende Leistungsfähigkeit von AI geben. Ich zeige Ihnen hier einen Ausschnitt aus einem Werk, das zu Beginn des 17. Jahrhunderts wie ein Wirbelwind durch Europa fegte: den “Sidereus Nuncius” von niemand geringerem als Galileo Galilei. Dieses Buch markierte den Beginn einer Revolution, denn es war eines der ersten wissenschaftlichen Werke, das nicht nur auf Latein, sondern auch in der Volkssprache Italienisch verfasst wurde und so einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich war.

Sidereus Nuncius

Ich habe jetzt eine Variante von Chat-GPT aufgebaut. Für diejenigen unter Ihnen, die bereits mit Chat-GPT gearbeitet haben, wird die Oberfläche vertraut aussehen.

2.3.5 Übertragen eines Bildes in maschinenlesbaren Text

Nehmen wir an, Sie haben eine Seite mit komplexen Inhalten vor sich, mit denen Sie in ihrer jetzigen Form nichts anfangen können. Hier kommt die AI ins Spiel: Sie können einfach einen Screenshot der Seite machen und diesen in den Chat-GPT hochladen. Anschließend instruieren Sie die AI mit einer Anweisung wie “Transkribiere das Bild” - und schon erhalten Sie eine nahezu fehlerfreie Übertragung des nicht gerade einfachen Textes in getippte Buchstaben. Eine Leistung, die bis heute kein anderes Programm in dieser Qualität vollbringen kann.

2.3.6 Übersetzen des Textes in eine andere Sprache

Doch das ist erst der Anfang. Nehmen wir an, Sie verstehen kein Latein - kein Problem. Tippen Sie einfach “Übersetze diesen Text ins Deutsche” ein und schon erhalten Sie eine verständliche, wenn auch noch etwas gewöhnungsbedürftige Übersetzung. Mit ein wenig Feinschliff oder dem Wechsel des Modells lässt sich daraus ein publikationsreifer deutscher Text erstellen. Und das Ganze funktioniert nicht nur für Deutsch und Englisch, sondern für über 150 Sprachen weltweit, darunter auch Japanisch und Koreanisch. Selbst obskure mittelalterliche Quellen stellen kein Hindernis dar.

2.4 Erweiterungen

Doch jetzt fängt der eigentliche Spaß erst an. Mit dem nun zugänglichen Text eröffnen sich ganz neue Möglichkeiten jenseits der typischen Google-Fragen wie “Wer war Galilei?” oder “Wann lebte er?”. Stattdessen können Sie die AI mit Fragen herausfordern, die Google unmöglich beantworten kann. Zum Beispiel: “In welcher Stadt trank Galilei im Mai 1615 ein Glas Wein?”. Das Problem liegt hier nicht nur darin, dass Google dieses spezifische Ereignis nicht kennt, sondern dass eine einfache Stichwortsuche prinzipiell nicht ausreicht, um die Antwort zu finden.

2.4.1 Analogie zu Sherlock Holmes

Stellen Sie sich die AI als eine Art elektronischen Sherlock Holmes vor. Sie nimmt das gesamte Universum an Dokumenten über Galilei zur Kenntnis - seine Briefe, seine historischen Lebensumstände, seine typischen Aktivitäten im Frühjahr 1605. Aus diesen Informationen zieht sie dann Rückschlüsse und generiert eine fundierte Hypothese darüber, wo und wann Galilei wahrscheinlich sein Glas Wein genossen hat. Zwar nicht mit absoluter Sicherheit, aber basierend auf seinen regelmäßigen Lebensumständen. Solche Fragen werden die AI-Modelle in naher Zukunft beantworten können.

2.4.2 Vielfältige Analysemöglichkeiten von Texten

Doch damit nicht genug. Sie können die AI auch anweisen, eine Tabelle mit allen Verben des Textes zu erstellen oder gezielt nach Verben zu suchen, die ein Lob, eine Ankündigung oder ein Versprechen ausdrücken - selbst wenn Sie die genaue Formulierung nicht kennen. Die Möglichkeiten sind schier grenzenlos.

Ein konkretes Beispiel: Fragen wir die AI, wer sich laut dem Text bewegt. Nach kurzer Bedenkzeit liefert sie die korrekte Antwort: Die vier Planeten bewegen sich zu verschiedenen Zeiten und mit erstaunlicher Geschwindigkeit um den Stern Jupiter - eine Entdeckung, die Galilei machte und die tatsächlich im lateinischen Originaltext erwähnt wird.

2.5 Philosophie als Grundlage für die Möglichkeiten der AI

Doch wie ist das alles möglich? Die Antwort liegt in der Philosophie - nicht in der Technik. Natürlich brauchen wir auch die technische Infrastruktur, so wie wir Beamer und Notebooks benötigen. Aber der eigentliche Schlüssel zu den Fähigkeiten der AI ist philosophischer Natur. Das wird oft übersehen, doch ich möchte Ihnen zeigen, warum Philosophie hier so entscheidend ist.

2.5.1 Beantwortung von Fragen über Mikrofoneingabe

Um das Potenzial der AI weiter zu verdeutlichen, können wir auch das Mikrofon aktivieren und eine Frage stellen: “Hat Galilei diese Entdeckung selbst durch Beobachtungen gemacht?”. Das System denkt kurz nach und liefert dann die zutreffende Antwort: Ja, laut den Angaben im Text hat Galilei die Entdeckung tatsächlich selbst durch Beobachtungen gemacht.

Das Erstaunliche daran ist nicht nur, dass überhaupt eine Antwort generiert wird, sondern vor allem die Qualität dieser Antwort - trotz Versprechern und spontaner Formulierung meinerseits.## Einführung in die sprachliche Dimension der AI

Meine Damen und Herren, heute möchte ich Ihnen eine faszinierende und zugleich beunruhigende Entwicklung in der Welt der künstlichen Intelligenz näherbringen. Es geht um die Fähigkeit von AI-Systemen, nicht nur Informationen aus autoritativen Quellen zu sammeln, sondern eigenständig Antworten zu generieren und Inhalte zu erstellen. Diese Entwicklung hat weitreichende Konsequenzen für unser Verständnis von Wissen und Informationsverarbeitung.

2.5.2 Die Möglichkeiten der AI

Die Möglichkeiten der AI sind atemberaubend und erweitern sich täglich. Lassen Sie mich Ihnen einige Beispiele nennen:

  • Übersetzung: AI-Systeme können Texte von einer Sprache in eine andere übersetzen, und zwar mit einer Genauigkeit und Geschwindigkeit, die menschliche Übersetzer in den Schatten stellt.

  • Bild-zu-Text-Konvertierung: AI kann Bilder analysieren und deren Inhalt in Textform beschreiben. Dies eröffnet völlig neue Möglichkeiten der Bildverarbeitung und -archivierung.

  • Audio-zu-Text-Konvertierung: Gesprochene Sprache kann von AI-Systemen in Echtzeit transkribiert werden, was die Erstellung von Protokollen und Untertiteln erleichtert.

  • Textzusammenfassung: Geben Sie der AI ein ganzes Buch, und sie wird Ihnen eine prägnante Zusammenfassung liefern. Dies kann die Recherche und das Studium enorm beschleunigen.

  • Text-zu-Audio-Konvertierung: Umgekehrt kann AI auch geschriebenen Text in gesprochene Sprache umwandeln, was neue Möglichkeiten für Hörbücher und Sprachassistenten eröffnet.

  • Text-zu-Video-Konvertierung: Hier wird es geradezu unheimlich. AI kann aus Textbeschreibungen realistische Videos generieren, die kaum noch von echten Aufnahmen zu unterscheiden sind.

2.5.3 Gefahren der AI

So faszinierend diese Möglichkeiten auch sind, sie bergen auch erhebliche Risiken. Ein zentrales Problem ist das Phänomen der “Halluzination”. Dabei generiert die AI scheinbar plausible Informationen, die jedoch nicht der Realität entsprechen.

Ein Beispiel: Ich fragte eine AI nach dem Namen der zweiten Frau des Mathematikers Leonhard Euler. Die Antwort klang überzeugend, inklusive eines Verweises auf eine Publikation der Petersburger Akademieschriften von 1784. Doch diese Publikation existiert gar nicht, und die genannte Person war nie mit Euler verheiratet.

Solche Halluzinationen können fatale Folgen haben, wenn sie unerkannt bleiben. Wer eine solche Information zitiert, disqualifiziert sich wissenschaftlich für immer. Dieses Problem trat auch bei der Mars-Mission der NASA auf, als eine AI falsche Informationen über einen Erkundungssatelliten verbreitete.

2.5.4 Der sprachliche Kern der AI

Bei all diesen Anwendungen, sei es Bild-, Audio- oder Videoverarbeitung, bildet die Sprache den Kern der AI-Technologie. Selbst bei der Bildanalyse übersetzt die AI zunächst das Bild in eine verbale Beschreibung, bevor sie weiterverarbeitet wird.

Diese Erkenntnis ist philosophisch bedeutsam und erinnert an Wittgensteins These von der Unhintergehbarkeit der Sprache. Die sprachliche Verbalisierung von Inhalten ist der Dreh- und Angelpunkt der AI, und genau darum soll es in dieser Vorlesung gehen.

Ich werde mich nicht auf die technischen Details der AI-Entwicklung konzentrieren, sondern auf den Umgang mit Sprache in AI-Modellen. Die anderen Medien sind zwar faszinierend, aber letztlich sekundär. Unser roter Faden wird die philosophische Dimension der sprachlichen Verarbeitung in der AI sein.## Gefahren und Probleme der künstlichen Intelligenz

Meine Damen und Herren, lassen Sie uns heute über die Schattenseiten der künstlichen Intelligenz sprechen. Wir haben bereits die atemberaubenden Möglichkeiten dieser Technologie gesehen, doch nun ist es an der Zeit, auch die Probleme und Gefahren zu beleuchten, die damit einhergehen.

2.5.5 Das Problem der Halluzinationen

Eines der ersten Probleme, auf das wir stoßen, sind die sogenannten Halluzinationen der AI-Modelle. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür lieferte das Supermodell von Google, das auf die Frage “Wer fliegt denn da?” eine Antwort gab, die zwar plausibel klang, aber rein fiktiv war. Ohne Zugriff auf aktuelle NASA-Informationen oder Tagesnachrichten erfand das Modell kurzerhand einen Satellitennamen. Innerhalb einer halben Stunde wurde es vom Netz genommen, und der Marktwert von Google-Aktien sank um Millionen. Seitdem trauen sich die Unternehmen nicht mehr, ihre Modelle zu veröffentlichen.

Doch warum halluzinieren die Modelle überhaupt, wenn sie doch schon so viele Fähigkeiten besitzen? Die Antwort darauf ist komplexer als man denkt.

2.5.6 Die Gefahr der Manipulation durch glaubwürdige Fakes

Ein weiteres Problem, das eng mit den Halluzinationen verbunden ist, ist die Fähigkeit der AI, glaubwürdige Texte, Bilder und sogar Videos zu produzieren. Dies öffnet Tür und Tor für falsche oder manipulative Informationen, die auf den ersten Blick echt erscheinen.

Ein aktuelles Beispiel dafür sind die Videos, die im Zusammenhang mit dem Raketenüberfall auf Israel in den sozialen Medien aufgetaucht sind. Sie zeigten panische Einwohner von Tel Aviv, die vor nicht existierenden Einschlägen flohen. Diese Videos wurden absichtlich generiert, um die Öffentlichkeit zu täuschen, und sind für den Betrachter zunächst nicht als Manipulation zu erkennen.

2.5.7 Selektive Informationen und die Pluralität der Hintergründe

Jede Antwort, die uns ein AI-Modell gibt, basiert auf bestimmten Annahmen und Voraussetzungen. Diese haben jedoch immer auch Alternativen, die möglicherweise nicht besser oder schlechter sind, aber eine Pluralität an Hintergründen darstellen.

Wenn wir eine bestimmte Antwort akzeptieren, akzeptieren wir auch die Voraussetzungen dafür und vernachlässigen die Alternativen. Ein Beispiel dafür ist die Anfrage an ein AI-Modell, ein Porträt eines möglichen Nachfolgers des jetzigen Papstes zu erstellen. Aufgrund der politisch korrekten Voreinstellung des Modells wurde eine farbige Frau im Papstgewand generiert - eine Darstellung, die in der Realität aufgrund der Zusammensetzung des Kardinalskollegiums höchst unwahrscheinlich ist.

Dieses Beispiel verdeutlicht, wie selektive Informationen zu verzerrten Ergebnissen führen können. Es wirft die Frage auf, wie wir mit diesen Problemen umgehen sollen.

2.5.8 Die Unausweichlichkeit der AI-Entwicklung und die Notwendigkeit der Gestaltung

Eines ist klar: Wir können uns vor diesen Fragen nicht drücken. Die Entwicklung der künstlichen Intelligenz ist unwiderstehlich und unausweichlich. Ab heute werden uns diese Technologien mit all ihren Vor- und Nachteilen zunehmend beschäftigen.

Wir müssen lernen, damit umzugehen und die Entwicklung aktiv mitzugestalten. Nicht im Sinne einer Kontrolle, sondern einer Gestaltung. Denn wenn wir jetzt nicht eingreifen, laufen wir Gefahr, die Kontrolle über diesen Prozess zu verlieren.

2.5.9 Weitere Gefahren: Diskriminierung und Überwachung

Neben der selektiven Information gibt es weitere Gefahren, die wir im Auge behalten müssen. Dazu gehören Dimensionen der Diskriminierung, bei denen bestimmte Personengruppen oder Qualifikationen berücksichtigt werden, andere hingegen nicht.

Auch die Möglichkeiten der Überwachung durch AI-Systeme sind alarmierend. Ein Beispiel dafür ist China, wo Besucher bei der Einreise lediglich in eine Kamera lächeln müssen und dann während ihres gesamten Aufenthalts live verfolgt und protokolliert werden.

Diese Entwicklungen werfen Fragen auf, wie weit solche Technologien zugelassen und kontrolliert werden sollten. Eine Antwort darauf zu finden, ist keine leichte Aufgabe.

2.5.10 Die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit AI

Angesichts dieser erschütternden Probleme könnte man geneigt sein, das Thema AI einfach zu vergessen. Wozu sich mit Übersetzungen von Galileis lateinischen Texten beschäftigen, wenn wir dafür doch unsere Gelehrten haben?

Doch so einfach ist es nicht. Die Vorteile der künstlichen Intelligenz sind zu groß, um sie zu ignorieren. Wir müssen uns mit dieser Technologie auseinandersetzen, ihre Möglichkeiten nutzen und gleichzeitig ihre Schattenseiten im Blick behalten. Nur so können wir eine Zukunft gestalten, in der die AI zum Wohle der Menschheit eingesetzt wird.

2.6 Nutzungsmöglichkeiten in der Wissenschaft

Lassen Sie uns ein Beispiel betrachten, das wir gerade schon diskutiert haben. In der Fachliteratur hält sich hartnäckig das Gerücht, dass Galileis Vater sich negativ über die wissenschaftliche Nutzung anderer Sprachen als Latein geäußert haben soll. Das würde natürlich einen spannenden Vater-Sohn-Konflikt darstellen, denn Galilei selbst ist ja berühmt dafür, dass er das Italienische für die Wissenschaft nutzbar machte, indem er auf Italienisch publizierte.

In zahlreichen Sekundärquellen findet man die These, dass sein Vater dies nicht für wissenschaftlich hielt und dass sein Sohn Galileo Galilei sich besser von diesen italienischen Publikationen fernhalten sollte. Oh, Moment mal - da steht, dass Kepler sich gegenüber Galilei negativ geäußert hat, nicht Galileis Vater. Danke für den Hinweis! Das ist keine Halluzination, sondern ein echter Fehler meinerseits. Ich hoffe, ich vergesse nicht, das für die Internetversion zu korrigieren.

Die Pointe ist jedenfalls, dass man eine solche Frage - ob sich eine Person X irgendwo negativ zu einer bestimmten These geäußert hat - mit Google nicht beantworten kann. Das mag trivial klingen, aber im Moment ist es tatsächlich nicht möglich, dies durch eine Google-Suche herauszufinden. Warum? Weil Google Ihnen kein Dokument im Internet liefern wird, in dem diese Frage direkt beantwortet wird. Und wenn es ein solches Dokument nicht gibt, ist die Frage für Sie mit Google-Techniken nicht zu beantworten.

Dabei handelt es sich um eine Frage, die historisch gesehen entweder wahr oder falsch ist. Wie kann man das also entscheiden? Nicht mit den heutigen Google-Techniken. Hier braucht es eine neue Dimension der Recherche, die über bestimmte Fähigkeiten verfügen muss.

2.7 Bislang nicht lösbare Aufgaben

Lassen Sie mich Ihnen anhand einer Liste von Aufgaben und Fragen veranschaulichen, wie zunehmend Probleme auftauchen, die mit den heutigen akademischen Techniken nicht zu lösen sind. Ich spreche hier von Fragen, die selbst Sie als forschende Person nicht beantworten können, wenn sie halbwegs komplex sind.

Mir geht es um die unlösbaren Probleme der realen Forschungswelt, die zwar mit AI lösbar wären, aber aufgrund bestimmter fehlender Fertigkeiten bisher nicht gelöst werden können. Jetzt befinden wir uns im philosophischen Teil meiner Ausführungen und ich werde versuchen, dies sprachanalytisch zu komprimieren.

2.7.1 Frage 1: Einfache Aussage in einer Quelle

Angenommen, Person A äußert sich in einer Quelle Q zu einer Person namens Jochen Schmidt. Ist diese Aussage wahr oder falsch? Hier haben Sie noch eine gewisse Chance, die Frage eindeutig zu beantworten, wenn Sie die Quelle Q gefunden haben und darin die Person A benannt wird und sich zu Jochen Schmidt äußert. Der Anforderungsgrad ist hier noch nicht sehr hoch. Wenn das Ihre Examensaufgabe wäre, hätten Sie eine realistische Chance, sie zu lösen. Sie müssten nur so lange alle Quellen durchlesen, bis Sie die richtige gefunden haben.

2.7.2 Frage 2: Aussage in Briefen zu einem Thema

Nehmen wir an, Person A äußert sich in ihren Briefen zu einem Thema T. Das können Sie schon nicht mehr ohne weiteres lösen, ohne eine Lebensdauer damit zu verbringen, das gesamte Schrifttum von Person A zu lesen. Wenn Sie z.B. für eine Examensarbeit eine Biografie über eine Person namens Heinz Müller verfassen sollten und eine solche Aufgabe hätten, müssten Sie zunächst alle Briefe zusammentragen und sie komplett lesen. Und selbst dann wären Sie sich nicht sicher, ob Sie wirklich alle Briefe gefunden haben.

Denken Sie nur an die Kafka-Forscher. Wenn Sie wissen wollen, ob sich Kafka in seinen Briefen jemals zu einem bestimmten Thema geäußert hat oder nicht, haben Sie einen enormen manuellen Forschungsaufwand vor sich, um überhaupt in die Nähe einer Antwort zu kommen. Hier befinden wir uns bereits in Bereichen, die schwer zu beantworten sind - Fragestellungen, die bislang praktisch nicht zu lösen waren.

2.7.3 Frage 3: Aussagen einer Person in ihren Schriften

Hat eine Person A in ihren Schriften Aussagen der Art T getroffen, wenn Person A sehr viel geschrieben hat? Nehmen wir als Beispiel die Briefe Napoleons. Hat sich Napoleon jemals zu Aspekten der Vorläufer der Genfer Konvention bei der Kriegsführung geäußert? Das können Sie aus praktischen Gründen nicht lösen. Ich will an dieser Stelle nicht sagen, dass es prinzipiell unmöglich ist, aber in der Wissenschaft möchte man solche Fragen beantwortet haben. Und das gilt nicht nur für das öffentliche Interesse, sondern auch für die Wissenschaft selbst.

Sie können sich vorstellen, welch enorme Konsequenzen es für die Wissenschaft hätte, wenn man solche Fragen überhaupt beantworten könnte. Dann wäre es möglich, weitreichende Thesen zu Napoleons Verständnis von Krieg und Frieden aufzustellen, die von der Evidenz abhängen, mit der man solche Fragen beantworten kann. Im Moment ist das nicht möglich.

2.7.4 Frage 4: Keine Aussage einer Person in ihren Schriften

Angenommen, Person A hat in ihren Schriften keine Aussage T getroffen. Als normaler arbeitender Historiker oder Geisteswissenschaftler werden Sie diese Frage nicht seriös beantworten können. Deshalb gibt es in der Literatur die Unsitte, andere Werke zu zitieren, die sich aus irgendwelchen Gründen dazu bemüßigt fühlten, solche Fragen zu beantworten.

Ein Beispiel: Nehmen wir wieder Kafka. Manche Autoren vertreten die These, dass Kafka sich nie antisemitisch geäußert hat. Aber welche Evidenz können Sie dafür eigentlich angeben? Es ist schwierig, eine nicht vorhandene Lektüre von Briefen als Beleg anzuführen. Wie wollen Sie eine solche These rechtfertigen, wenn Sie sie vertreten?

Eine der größten Unsitten der gegenwärtigen akademischen Literatur besteht darin, nicht selbst das Risiko einer These einzugehen, sondern stattdessen den berühmten Heinz Müller zu zitieren, weil er schon einmal etwas Ähnliches gesagt hat. Also fügt man eine Fußnote in die Arbeit ein: “Heinz Müller, 1973, Seite 5: Ganz klar, Kafka hat sich nie antisemitisch geäußert.” Und auf einmal entsteht ein Schneeballsystem, das dem Halluzinationseffekt ähnelt, den wir gerade hier hatten. Und zwar nur deshalb, weil die Evidenz, die für bestimmte Thesen erforderlich ist, auf manuelle Weise kaum zu beschaffen ist. Mit AI werden Sie das in Zukunft können.

2.8 Die Herausforderung der inhaltlichen Analyse mit AI

Jetzt werden Sie vielleicht fragen: Inwiefern ist das speziell für AI relevant? Man könnte doch erwarten, dass sich das grammatikalisch lösen lässt. Wenn ich die Aussage T formalisieren kann, müsste ich doch auf dem Textkorpus einfach prüfen können, ob diese Bedingung irgendwo erfüllt ist, oder?

Genau das ist der springende Punkt, und ich muss jetzt ein bisschen auf die Uhr schauen, damit ich meine Kurve hier noch hinbekomme. Aber diese Kurve berührt schon das Thema. Was heißt es, in Ihrem Korpus prüfen zu können?

Nehmen wir an, Sie hätten den Idealfall: Kafkas gesammelten Briefwechsel in einer Datenbank. Jetzt möchten Sie wissen, ob es darin eine antisemitische Formulierung gibt. Wie sieht die denn aus? Wenn Sie Ihre Datenbank nach Art einer Google-Suche nach bestimmten Wortvorkommnissen durchforsten, dann können Sie das lösen. Das ist die klassische Vorgehensweise.

Aber inhaltlich betrachtet: Was ist eigentlich eine antisemitische Äußerung? Sobald es darum geht - und deshalb habe ich es hier erwähnt - kön## Betrachtungen zur künstlichen Intelligenz und Sprachverarbeitung

Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Studierende,

in der heutigen Vorlesung möchte ich Ihnen einen faszinierenden Einblick in die Welt der künstlichen Intelligenz und insbesondere deren Fähigkeiten zur Sprachverarbeitung geben. Wir werden uns mit der Frage beschäftigen, inwieweit AI-Systeme in der Lage sind, komplexe sprachliche Konstrukte wie Metaphern, Ironie oder versteckte Bedeutungen zu erkennen und zu interpretieren.

2.8.1 Grenzen der traditionellen Datenbanken

Zunächst einmal möchte ich klarstellen, dass ich keineswegs behauptet habe, es gäbe in den vorliegenden Dokumenten keine relevanten Satzvorkommnisse. Die herkömmliche Art der Dokumentenaufzeichnung und -abfrage, wie sie etwa mit Datenbanken möglich ist, erlaubt zwar das Auffinden bestimmter Textpassagen, jedoch keine inhaltlichen Suchen im eigentlichen Sinne.

Selbst moderne AI-Systeme können nicht mit absoluter Sicherheit feststellen, dass eine bestimmte Aussage nicht getroffen wurde, da stets die Möglichkeit besteht, dass die zugrunde liegende Datenbasis unvollständig ist. Vielmehr lässt sich hier nur mit Wahrscheinlichkeiten operieren - ein Begriff, den ich an dieser Stelle allerdings kritisch hinterfragen möchte.

2.8.2 Qualifizierte Aussagen auf Basis der verfügbaren Evidenz

Wahrscheinlichkeiten sind numerische Werte zwischen 0 und 1, die man in diesem Kontext nicht sinnvoll einsetzen kann. Stattdessen sollte man sich auf die konkrete Situation beziehen und feststellen: Auf Basis dieser und jener Grundgesamtheit von Briefwechseln und Äußerungen, die als Dokumente für die Befunde zur Verfügung stehen, lässt sich unter der Voraussetzung, dass sie die alleinige Entscheidungsgrundlage bilden, folgendes Fazit ableiten.

Eine solche differenzierte Betrachtung der Befundlage ist unerlässlich, denn es lässt sich ja nicht ausschließen, dass genau jene Briefe, die möglicherweise relevante Inhalte enthalten, vernichtet wurden. Ein solches Szenario würde den Wahrheitswert der Fragestellung grundlegend verändern. Auch AI-Systeme können diese Problematik nicht vollständig ausräumen, sehr wohl aber eine qualifizierte, auf der verfügbaren Evidenz basierende Antwort geben.

2.8.3 Herausforderungen bei der Interpretation von Metaphern und Ironie

Ein besonders spannendes Feld ist die Fähigkeit von AI-Systemen, mit Metaphern und uneigentlichem Sprachgebrauch umzugehen. Gerade im Kontext des Antisemitismus verbergen sich oft codierte Botschaften hinter scheinbar harmlosen Formulierungen. Während eine Blut-und-Boden-Ideologie relativ leicht zu identifizieren ist, stellt die Interpretation von Begriffen wie “entwurzelt” oder “ohne Verwurzelung” eine ungleich größere Herausforderung dar.

Anhand eines konkreten Beispiels möchte ich Ihnen verdeutlichen, wozu moderne AI-Systeme in diesem Bereich bereits in der Lage sind. In München hatten wir es mit revolutionären Briefen aus der Zeit der Französischen Revolution zu tun, die in elegantem Französisch verfasst waren und vor Ironie und Sarkasmus nur so strotzten. Um diese Feinheiten zu erkennen, bedarf es zunächst einmal exzellenter Sprachkenntnisse. Doch selbst dann gilt es, die ironischen Komponenten als solche zu identifizieren.

Ich kann Ihnen versichern, dass AI-Systeme mittlerweile über eine Sprachkompetenz verfügen, die es ihnen erlaubt, auch diese Dimension der Sprachverwendung zu erkennen. Allerdings dürfen Sie sich das nicht als simples Schwarz-Weiß-Schema vorstellen, bei dem man einfach einen “Ironie-Kompetenz-Knopf” umlegt und schon funktioniert alles wie bei einem literarischen Meisterinterpreten.

2.8.4 Lernfähigkeit und Entwicklungspotenzial von AI-Systemen

Vielmehr müssen Sie sich den Lernprozess der AI ähnlich vorstellen wie Ihre eigene Entwicklung zu Beginn Ihres Studiums. Auch Sie haben im Laufe der Zeit eine Menge dazugelernt und sich weiterentwickelt. Genauso können auch AI-Modelle lernen und sich verbessern. Ich möchte keineswegs behaupten, dass bereits alle Probleme und Herausforderungen gelöst sind, aber es gibt vielversprechende Lösungsansätze, um auch mit komplexeren Formen der Sprachverwendung umgehen zu können.

In München haben wir beispielsweise erfolgreich getestet, ob AI-Systeme in der Lage sind, bissige Karikaturen aus den 1920er Jahren zu interpretieren und zu erkennen, welche Personen mit welchen Klischees auf den Arm genommen werden. Mit dem richtigen Training ist es den Bilderkennungsalgorithmen tatsächlich gelungen, diese Zusammenhänge zu entschlüsseln.

2.8.5 Der Paradigmenwechsel durch Large Language Models und Embeddings

Der entscheidende Unterschied und gleichzeitig der Punkt, an dem der “Philosophical Turn” der AI einsetzt, liegt in der Entwicklung von Techniken wie Large Language Models oder Embeddings. Diese ermöglichen eine Abkehr von der reinen Textsuche hin zu einer inhaltlichen Erfassung der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke. Dieser semantische Wechsel, den ich auch gerne als “Semantic Turn” bezeichne, ist der Schlüssel zu den beeindruckenden Fähigkeiten moderner AI-Systeme.

Egal ob es um die Analyse von Bildern, Texten oder Audioaufnahmen geht - all diesen Anwendungen liegt zugrunde, dass die Systeme nicht nur nach bestimmten Zeichenfolgen suchen, sondern deren Bedeutung erfassen und identifizieren können. Genau darum geht es bei den milliardenschweren Investitionen in diesem Bereich: den Modellen beizubringen, auf Basis der eingegebenen Daten die dahinterstehende Semantik zu erkennen.

2.8.6 Die Bedeutung der Philosophie für die AI-Forschung

Damit eröffnet sich ein weites Feld für die Philosophie. Solange wir nur von Sätzen sprechen, bewegen wir uns auf der Ebene von Formulierungen und syntaktischen Strukturen. Wenn wir jedoch nach der Bedeutung eines Ausdrucks fragen, betreten wir Neuland. Genau hier setzt die aktuelle AI-Revolution an, und deshalb ist die Philosophie von zentraler Bedeutung für diese Entwicklung.

Als Studierende der Philosophie sollten Sie mit der klassischen Unterscheidung zwischen Satz und Aussage vertraut sein. Im Deutschen ist diese Differenzierung von größter Wichtigkeit, während sie in englischen Übersetzungen oft vernachlässigt wird. So haben etwa die Übersetzer von Wittgensteins Gesammelten Werken sowohl für “Aussage” als auch für “Satz” durchgängig den Begriff “Sentence” verwendet, was zu erheblichen Missverständnissen führen kann. Im Englischen heißt es korrekterweise “Sentence” für Satz und “Proposition” für Aussage.

Genau diese Unterscheidung markiert die fundamentale Revolution, die sich gerade vollzieht: Wir haben es nun mit Maschinen zu tun, die mit Aussagen umgehen können. Und nur Aussagen, nicht Sätze, können wahr oder falsch sein. Wer also über Fake News, Halluzinationen und ähnliche Phänomene spricht und sich dabei auf Sätze bezieht, liegt philosophisch gesehen völlig falsch. Wahrheit und Falschheit können sich konzeptionell nur auf Aussagen beziehen.

Die Tatsache, dass AI-Systeme nun in der Lage sind, sich mit Aussagen zu befassen, birgt ebenso faszinierende Möglichkeiten wie Gefahren. In der nächsten Vorlesung werden wir uns eingehender mit diesen Aspekten beschäftigen und uns ansehen, wie genau diese neuen Technologien funktionieren und welche Auswirkungen sie haben können.