1 AI-Hermeneutik

Sitzung 1

Author

Gerd Graßhoff

Published

April 17, 2025

1 Einleitung

Das Seminar befasst sich mit einer anspruchsvollen Thematik auf fortgeschrittenem Studienniveau. Jede Seminarsitzung wird durch einen ausführlichen Bericht dokumentiert, der zeitnah nach der jeweiligen Veranstaltung auf dieser Webseite zugänglich gemacht wird. Der Link zu dieser Seite wird in der kommenden Woche bekanntgegeben oder bei überschaubarer Teilnehmerzahl direkt per E-Mail mitgeteilt, sobald die Plattform aktiviert ist. Sämtliche Materialien werden – vorbehaltlich möglicher Anpassungen – hier zur Verfügung gestellt. Um die Auswahl der Seminarbeispiele optimal auf die Bedürfnisse der Teilnehmenden abzustimmen, erfolgt eine Erhebung ihres fachlichen Hintergrundwissens.

2 AI-Reporter

Der “AI Reporter” zeichnet die Seminarinhalte auf und stellt sie direkt auf der Seminar-Website bereit. Dieses Werkzeug erzeugt automatisch Mitschriften, die alle wichtigen Punkte festhalten. Auf hermeneutik.grasshoff.college finden Sie jede Woche aktuelle Materialien, Resultate und Thesen. Die Seite dokumentiert unsere gemeinsame Arbeit fortlaufend. Mit Einverständnis der Studierenden zeigen wir dort auch ihre Projektarbeiten und Schwerpunktthemen, was den Austausch fördert.

Google AI Studio bildet die zentrale Arbeitsumgebung des Seminars. Die klar strukturierte Oberfläche unterstützt hermeneutische Analysen und erleichtert den Arbeitsablauf.

3 Hermeneutik: Kontext & Wandel

3.1 Ursprung der Hermeneutik

Die Hermeneutik repräsentiert ein zentrales philosophisches Thema und gilt als fundamentaler Gründungsgedanke der Berliner Universität. Denker wie Schleiermacher, Fichte und Herder stehen exemplarisch für die philosophische Hermeneutik in dieser Tradition. Die Universitätsgründung war wesentlich mit dem Auftrag verknüpft, insbesondere für die philosophische Fakultät, eine methodisch fundierte, rational nachvollziehbare Interpretation biblischer Schriften zu entwickeln. Dieser Auftrag, eingebettet in den geistesgeschichtlichen Kontext der Romantik um 1810, verfolgte ein innovatives Ziel: die Selbstbestimmung der eigenen Geschichte und literarischen Tradition durch eigenständige, kritische Quellenanalyse, unabhängig von tradierten Autoritäten wie Kirche oder Überlieferung. Dies erforderte eine reflektierte Selbstverortung in Kultur, Politik, Geschichte und Gesellschaft – gewissermaßen eine Form der Eigenrationalisierung.

Das hermeneutische Verfahren erweiterte sich dabei über die reine Bibelexegese hinaus und integrierte systematisch sämtliche verfügbaren Quellen, einschließlich antiker Texte und archäologischer Befunde, um ein kontextualisiertes Verständnis der Schriften zu ermöglichen. Diese methodische Grundausrichtung bildete ein wesentliches Fundament bei der Gründung der Berliner Universität und prägt deren hermeneutische Bedeutung bis in die Gegenwart.

3.2 Auftrag heute

Das Seminar zielt nicht darauf ab, die klassischen hermeneutischen Texte und Autoren des 19. Jahrhunderts detailliert zu rekonstruieren. Vielmehr soll der ursprüngliche Gründungsauftrag der Hermeneutik – die quellenbasierte Erschließung von Verständnis – für das 21. Jahrhundert fruchtbar gemacht werden. Hierbei fungiert Künstliche Intelligenz (KI) als methodisches Instrument. KI wird dezidiert nicht als unhinterfragbare Autorität verstanden, deren Ausgaben unkritisch zu übernehmen wären. Stattdessen kommen KI-Systeme als Werkzeuge zum Einsatz, um hermeneutische Fragestellungen zu bearbeiten, indem sie bei der systematischen Analyse und Auswertung von Quellen unterstützen.

4 Quellen & Methodik

Als Quellenkorpus dienen vorrangig wissenschaftshistorische Dokumente. Dies umfasst sowohl klassische Texte als auch Gebrauchsmaterialien wie Laborbücher oder Korrespondenzen zwischen Forschenden. Ebenso können visuelle oder materielle Quellen, etwa Leonardos Zeichnungen, als Untersuchungsobjekte herangezogen werden. Die zentrale Methodik besteht darin, diese Quellen mit Unterstützung von KI-Tools zu interpretieren und auszulegen, um eigenständige Verständnisfragen zu klären. Der Fokus liegt dabei auf der Evidenz aus den Quellen selbst, nicht auf der Reproduktion von Interpretationen aus der Sekundärliteratur oder dem Rekurs auf externe Autoritäten.

5 Zwei Säulen der Hermeneutik

5.1 Quellen verstehen

Dies betrifft das Verstehen von Quellen in ihrer jeweiligen Erscheinungsform, sei es als Text, Skulptur, Objekt oder Bild. Die Leitfrage zielt weniger auf die oft nicht rekonstruierbare Autorenintention, sondern allgemeiner darauf, was die Quelle oder eine Quellenkonstellation im spezifischen historischen Kontext zum Ausdruck bringt.

5.2 Auslegung vermitteln

Die zweite Säule bildet die Auslegung im engeren Sinne. Sie umfasst die Aufgabe, das erarbeitete Quellenverständnis so darzustellen und zu kommunizieren, dass der Verstehensprozess und sein Ergebnis für andere nachvollziehbar werden. Es handelt sich hierbei um eine kommunikative Interpretation zweiter Ordnung. Der Begriff “Auslegung” findet sich historisch prominent in der Bibelexegese, aber auch in anderen Bereichen wie der juristischen Gesetzesinterpretation.

6 Aktiver Charakter der Auslegung

Auslegung ist kein passives Abbilden eines vorgegebenen, eindeutigen Sinns. Sie beinhaltet vielmehr einen aktiven, konstruktiven Beitrag des Interpretierenden. Am Beispiel des Begriffs “Menschenwürde” in § 1 GG wird dies exemplarisch deutlich: Der Begriff ist im Gesetzestext nicht abschließend definiert. Seine Auslegung im jeweiligen Anwendungskontext stellt einen aktiven Prozess dar, der Bedeutung präzisiert oder konstituiert. Der Auslegende strukturiert das Verständnis der Quelle, macht Aspekte transparent und kommunizierbar und erschafft dadurch in gewissem Sinne Bedeutung. Diese sinnstiftende Tätigkeit ähnelt der Arbeit von Kunsthistorikerinnen und -historikern sowie anderen interpretierenden Disziplinen.

7 Beispiele

Verschiedene Beispiele veranschaulichen die hermeneutischen Aufgabenstellungen:

  • Interpretation von Briefen hinsichtlich ihrer Kommunikationsintention

  • Analyse von Dokumenten der Französischen Revolution (neue Textgattungen, Adressatenbezug, vermittelte Inhalte)

  • Juristische Auslegung von Gesetzestexten (z.B. § 1 GG)

  • Wissenschaftshistorische Analyse von Texten (z.B. Newtons Trägheitsgesetz und die Bedeutung zentraler Konzepte wie Kraft, Ruhe, Bewegung)

  • Interpretation von Kunstwerken (z.B. Leonardos “Vitruvianischer Mensch” im wissenschaftshistorischen Kontext)

Die Anwendung von KI soll dabei nicht auf die bloße Recherche existierender Sekundärinterpretationen reduziert werden. Ein solches Vorgehen liefert weder eigenständige Evidenz noch methodische Qualitätskontrolle. Stattdessen dient KI als Instrument zur Unterstützung der eigenständigen Analyse und Auslegung der Primärquellen. Ziel ist die Generierung oder Sichtbarmachung von Evidenz aus den Quellen selbst, um eine methodisch nachvollziehbare, kriteriengeleitete Auslegung zu begründen.

8 Seminarziele

Die zentrale Herausforderung und das Ziel des Seminars bestehen darin, praktisch zu erproben, wie die hermeneutischen Kernaufgaben – Interpretieren und Auslegen – mithilfe von KI-Tools methodisch fundiert bewältigt werden können. Dies erfolgt durch konkrete Seminaraufgaben, in denen die Teilnehmenden diese Methoden anwenden und reflektieren. Dabei wird auch die grundlegende Frage erörtert, nach welchen Kriterien Auslegungsfragen beantwortet werden und was als relevante Evidenz gelten kann. Der Ansatz betont die Entwicklung und Anwendung eigenständiger methodischer Maßstäbe zur Bewertung von Auslegungen. Diese sollen sich auf die Evidenzlage der Quellen und ihren historischen Kontext stützen, nicht auf externe Autoritäten. Angestrebt wird die Erarbeitung von Auslegungen, die angesichts der verfügbaren Evidenz und nach expliziten methodischen Kriterien als bestmöglich begründet gelten können.

9 Grundlagen der Quelleninterpretation

9.1 Historische Grundlagen

Die Interpretation historischer Quellen basiert nicht auf der Übernahme hermeneutischer Leistungen Dritter oder dem Rekurs auf Autoritäten. Solche externen Deutungen konstituieren keine Evidenz und sind für die Beantwortung genuiner Interpretationsfragen ungeeignet. Maßgeblich ist allein die Evidenz, die aus der Quelle selbst und ihrem unmittelbaren historischen Kontext gewonnen wird. Die Berufung auf Expertenmeinungen zu einem Werk liefert keine eigenständige Evidenz für die Interpretation des Werkes selbst.

9.2 Beispiel: Trägheitsgesetz

Newtons Trägheitsgesetz, in seiner lateinischen Fassung als “Lex” bezeichnet, dient als exemplarischer Fall für die Herausforderungen der Quelleninterpretation. Die Formulierung lautet sinngemäß: Ein Körper verharrt im Zustand der Ruhe oder der gleichförmigen geradlinigen Bewegung, sofern keine Kraft auf ihn einwirkt.

Die Auslegung dieses wissenschaftshistorischen Satzes stellt methodisch vergleichbare Anforderungen wie die Interpretation grundlegender juristischer Texte. Es gilt, zentrale Begriffe wie “Kraft”, “Zustand”, “Ruhe” oder “Bewegung” zu identifizieren und in ihrer spezifischen historischen Bedeutung zu erfassen. Die Aufgabe besteht darin, mittels hermeneutischer Verfahren eine Auslegung zu entwickeln, die angesichts der verfügbaren Evidenz – und explizit nicht aufgrund von Autoritätsverweisen – am überzeugendsten begründet ist. Dieses methodische Prinzip gilt universell für die Interpretation jeglicher historischer Dokumente.

9.3 Methodische Hürden

Die Interpretation historischer Quellen birgt erhebliche methodische Herausforderungen. Eine grundlegende Schwierigkeit liegt in der oft trügerischen Annahme, einen Text oder eine Quelle unmittelbar verstehen zu können. Es ist prinzipiell davon auszugehen, dass ohne präzise Kenntnis des spezifischen historischen Kontexts Begrifflichkeiten, die exakte Bedeutung von Termini und die pragmatische Dimension von Äußerungen unklar bleiben.

Anschauliche Beispiele hierfür sind die unterschiedlichen Kalendersysteme im 17. und 18. Jahrhundert oder die historische Entwicklung wissenschaftlicher Grundbegriffe wie “Kraft”, dessen Bedeutung bei Newton sich fundamental von Keplers früherer Verwendung unterscheidet. Die scheinbare Selbstverständlichkeit solcher grundlegenden Begriffe verdeckt ihre komplexe historische Evolution und kontextspezifische Bedeutung.

10 Originalquellen & KI

Eine zentrale methodische Forderung ist die Arbeit mit den Originalquellen in ihrer ursprünglichen Sprache und Form. Dieser fundamentale erste Schritt gewinnt durch aktuelle Entwicklungen der Künstlichen Intelligenz erhebliche neue Bedeutung und ermöglicht eine methodische Revolution in der Quellenarbeit.

KI-Werkzeuge bieten heute Zugang zu und Unterstützung bei der Verarbeitung von Quellen in nahezu allen relevanten historischen Sprachen, einschließlich längst nicht mehr gesprochener wie Latein, Altgriechisch oder Akkadisch, auf denen wesentliche Teile der Wissenschaftsgeschichte basieren. KI kann somit dazu beitragen, die methodische Präzision zu stärken und die Quellenbasis direkt und umfassend zu erschließen, auch wenn die traditionellen philologischen Kenntnisse nicht mehr allgemein vorausgesetzt werden können.

11 Handlungen & Intentionen

Eine komplexere Ebene der Quelleninterpretation betrifft die Nutzung von Quellen zur Begründung von Aussagen über historische Ereignisse, insbesondere zum Verständnis menschlicher Handlungen. Der Fokus liegt hier auf der Frage: Warum handelten historische Akteure in bestimmter Weise?

Das philosophische Verständnis von Handlung setzt eine zugrundeliegende Absicht (Intention) voraus. Die Rekonstruktion dieser historischen Handlungsabsichten stellt das zentrale Problem und eine der größten methodologischen Herausforderungen in den Geisteswissenschaften dar. Der Hauptgrund liegt im systematischen Mangel an Quellen, die die Intentionen eines Akteurs explizit und verlässlich vor der Ausführung einer Handlung dokumentieren.

Das Verständnis von Handlungen und ihren Intentionen ist jedoch fundamental für nahezu alle historischen Disziplinen, da Geschichte wesentlich durch das intentionale Handeln von Individuen und Gruppen konstituiert wird. Die methodische Schwierigkeit, diese Intentionen präzise zu rekonstruieren, bleibt trotz ihrer zentralen Bedeutung eine der größten hermeneutischen Herausforderungen.